• 19.02.2024 07:58

Liebe Mama,
hier schreibt dir dein Sohn Michael. Ich hoffe, dieser Brief erreicht dich in guter Verfassung. Es ist schon lange her, dass wir miteinander gesprochen und geschrieben haben, aber ich möchte nicht, dass du denkst, es wäre so, weil ich dich nicht mag oder so. Ich habe zu niemandem aus meiner Ursprungsfamilie Kontakt. Das gilt auch für meine Pflegefamilien.

Ich bin jetzt 54 Jahre alt und lebe noch immer in Köln-Ehrenfeld in meiner kleinen 1-Zimmer-Wohnung. Ich bin alleine und habe niemanden an meiner Seite. Tatsächlich habe ich mich schon lange aus dem Leben im Allgemeinen zurückgezogen. Ich habe schon öfter versucht, eine Beziehung zu haben, aber es ist nie gut gegangen.
Deine Vermutung, dass ich schwul bin, ist korrekt. Es bedeutet nicht, dass ich Frauen nicht mag. Aber im erotischen Sinne ziehen mich Männer einfach wesentlich mehr an. Ich war zwar zwei Mal mit einer Frau in einer Beziehung, habe aber trotzdem keine Kinder, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich jemals welche haben werde. Natürlich hast du aber trotzdem viele Enkel von meinen anderen Geschwistern. Deshalb denke ich, dass es nicht so schlimm ist, wenn ich keine Nachfahren der Nilyus-Familie zeuge.
Musik mache ich nur noch als Hobby. Zwar bin ich dort auf professionellem Niveau, und ich hätte auch einige Angebote, auf diesem Weg Geld zu verdienen, aber ich hatte aus mehreren Gründen keine echte Lust mehr dazu. Heute verdiene ich mein Geld durch spirituelle Seminare, in denen ich den Menschen Informationen über die „geistige“ Welt zukommen lasse. Es gibt eine Gruppe, die sich um diese Arbeit herum gebildet hat. Wir haben eine Website: keysha.earth. Ich habe auch eine private Website, auf der du vieles Weitere über mich und mein aktuelles Leben erfahren kannst. 
Wie du ja vielleicht weißt, nennen mich heute alle Yanco. Das ist mein Künstlername, der auch in meinem Personalausweis steht. Deshalb heißt meine Website yanco.online. Ich halte alles weitgehend aktuell, sodass du dort auch Fotos, Videos und verschiedene weitere Medien von mir findest.
Leider ist meine Gesundheit derzeit ziemlich angeschlagen. Die Schulmedizin und auch alternative Heilversuche sind bisher fehlgeschlagen. Ich habe nichts Tödliches, aber eine sehr schlimme chronische Gastritis. Sie bewirkt, dass ich mich jeden Tag ziemlich schlecht fühle, besonders weil sie dazu führt, dass ich immer wieder Übelkeit und Schwindel ertragen muss. Außerdem kann ich kaum noch etwas essen.
Dieses körperliche Problem ist leider nicht das einzige seiner Art. Ich schreibe dir aber aus einem anderen Grund.
Zwischenzeitlich hatte ich ja schon einmal Kontakt zu dir aufgenommen, aber dann habe ich ihn wieder abgebrochen. Die Ursache dafür war mir bisher nicht bewusst, und ich habe sie erst vor kurzem herausgefunden. Es hat tatsächlich etwas mit dir zu tun, aber nicht auf die Weise, wie es sich jetzt anhört. Um das zu verstehen, müssen wir zurück in die Zeit deiner Schwangerschaft mit mir.
Als Fötus im Mutterleib bilden sich die Funktionen des späteren Körpers und auch der Psyche erst langsam. Aus diesem Grund kann sich niemand an die Zeit im Mutterleib wirklich erinnern. Das Gehirn, das diese Erinnerungen gespeichert hätte, war zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht da.
Alle Körperfunktionen werden zunächst durch den Körper der Mutter übernommen. Was immer das werdende Kind erlebt, entspricht den Erlebnissen der Mutter bzw. dem, was der Körper der Mutter aus ihren Erlebnissen gemacht hat.
Alles, was du in der Zeit der Schwangerschaft mit mir erlebt hast, hat in deinem Körper dafür gesorgt, dass er einen chemischen Cocktail produziert hat. Dieses Gemisch hat unterschiedliche Hormone enthalten, die für körperliche Reaktionen wie Freude, Angst, Wut, Lust etc. gesorgt haben. Ich bin in diesem Umfeld aufgewachsen und habe daher auf diese Weise meine erste Erfahrung mit der Welt gemacht. So ist meine grundsätzliche Einstellung zum Leben geprägt worden.
Wie ich schon sagte, haben wir keine bewusste Erinnerung daran, aber diese Dinge werden trotzdem in den Körperzellen gespeichert, und das Unbewusste agiert und reagiert auf diese Weise ganz automatisch durch das vegetative Nervensystem. Es entscheidet so, welche Dinge z.B. gefährlich sind und mit welchen man sich sicher fühlen kann. Mein Leben war immer von einem tiefen Unsicherheitsgefühl geprägt. Wie du ja weißt, geht das bis zu Angstzuständen, Alpträumen und Panik.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Erfahrungen, die die Mutter während der Schwangerschaft macht, für das Kind viel extremer sind als für sie selbst. Die Dosis des chemischen Cocktails ist wesentlich höher und stärker, als sie für eine erwachsene Person ist. Außerdem werden in Zukunft alle weiteren Körperzellen darauf aufgebaut. Der Effekt, den diese Dinge auf das Kind haben, ist deshalb wesentlich größer als er selbst bei der Mutter ist.
Das ist kein Vorwurf. Es ist nicht deine Schuld, dass ich auf diese Weise einen heftigen Schaden erhalten habe und viele Dinge, die für ein glückliches Leben wichtig gewesen wären, nicht entwickeln konnte. Viele Dinge in meinem Leben sind damals offensichtlich schon aus dem Ruder gelaufen, und niemand hatte wirklich die Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Es ist einfach eine Sache der Vererbung, an der es nichts zu rütteln gibt.
Heute muss ich jedoch damit irgendwie klarkommen. Ich habe mein ganzes Leben Probleme mit Übergewicht gehabt. Es liegt nicht daran, wie viele behaupten, dass ich zu viel esse, sondern daran, dass mein Körper schon während der Schwangerschaft gelernt hat, so viel bei sich zu behalten wie möglich, weil er weiß, dass es auch schlechte Zeiten geben kann, in denen es nichts zu essen gibt.
Als ich dann geboren war, hat sich die Situation nicht wesentlich verbessert. Ich hatte immer Angst vor meinem Vater. Eigentlich muss ich sogar sagen, dass ich immer Angst vor meinen Vätern (Plural) hatte. Auch wenn ich mich heute gegen sie wehren könnte, steckt die gelernte Angst tief in meinen Knochen.
Nachdem ich dir nun all das geschrieben habe, verstehst du vielleicht, warum ich keinen Kontakt zu meinen Familien habe. Sie lösen in mir immer ein Gefühl tiefer Unsicherheit und oft auch richtiger Angst aus. Ich fühle mich mit ihnen niemals wohl. Deswegen vermeide ich es, sie zu sehen oder mit ihnen zu kommunizieren, wo ich kann. Es ist etwas, das tief in mir eingegraben ist. Ich kann nicht einfach darüber hinweggehen und es ändern. In dieser Hinsicht werde ich wohl niemals eine Familie haben, die für mich wie ein sicherer Hafen ist, zu dem ich gehöre.
Trotzdem möchte ich in dieser Sache an mir arbeiten und etwas ändern. Es geht mir nicht gut, und meine innerlichen Zustände führen nun immer häufiger auch zu physischen Problemen und Krankheiten. Ich kann das nicht mehr einfach ignorieren, ohne etwas zu unternehmen. Aber leider kann man an diesen Dingen nichts ändern, solange man nicht wirklich weiß, was eigentlich das Problem ist.
Ich möchte dich deshalb fragen, was dir während meiner Schwangerschaft passiert ist. Wie war deine Situation? Wie hast du dich zu der Zeit gefühlt? Du hast ja erzählt, dass du von meinem Vater geschlagen wurdest. Hattest du häufig Angst deswegen? Hat er auch die Kinder geschlagen?
Du hast auch erzählt, dass du bei der Kirche für Essen betteln musstest. Wie ging es dir damit?
Und dann war da wohl noch die Sache mit dem Krankenhaus. Wie lange warst du während der Schwangerschaft dort? Haben die Ärzte und Schwestern dich gut behandelt? Welche Behandlung bekamst du? Musstest du Medikamente nehmen? Hast du viel geweint? Warst du verzweifelt? Was hast du über dein Leben gedacht?
Hast du vielleicht eine Geschichte, die während der Zeit deiner Schwangerschaft passiert ist, die du erzählen könntest?
Ich möchte gerne einen Eindruck von dem damaligen Leben bekommen und ich möchte herausfinden, welche Erfahrungen starke Gefühle ausgelöst haben, denn wenn ich diese Dinge verstehe, kann mein Gehirn etwas Neues lernen und auf andere Weise reagieren. Das bedeutet, ich könnte damit heilen. Ich nehme an, das gilt auch für dich.
Ich weiß natürlich, dass dieser Brief ziemlich viel auf einmal ist. Ich hoffe, dass ich dich damit jetzt nicht hoffnungslos überfordere. Ich weiß im Moment noch nicht, ob diese Kontaktaufnahme in Zukunft zu etwas Dauerhaftem führen wird. Ich schließe es nicht aus, aber ich habe ja erzählt, dass ich mich dafür erst wieder sicher und wohl fühlen muss. Niemand kann sagen, ob und wann das so sein wird. Es wäre schön, wenn du auch im Digitalen Zeitalter angekommen wärst und solche Kontaktmöglichkeiten wie Email, Messenger und soziale Medien hättest. Wenn ja, dann schick mir mal die Daten. Ich mache das Ganze schriftlich, weil ich dann immer wieder nachlesen kann und nur so meine Gedanken sortiert werden können.
Sei es wie es ist, ich habe dich auf jeden Fall lieb. Du bist in all den Jahren meine Mutter geblieben, auch wenn ich noch zwei andere hatte und nur dich nenne ich Mama. Das wird auch immer so bleiben.
Ich freue mich sehr auf eine Antwort von dir. 
Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt. Du hast es wirklich verdient.
Dein Kind,

Yanco / Michael

  • Bewertung: Normal
  • Wichtigkeit: Normal wichtig

Keine Kommentare